Kirgistan 2004: Die Küche und die Tradition

Zurück in Tokmak stürzt sich Ayscha sofort wieder in die Festvorbereitungen für Sonntag. In ihrer antik anmutenden Küche werden der Tradition entsprechend 40 unterschiedliche Gerichte zubereitet. Unsere Mithilfe wird entschieden abgelehnt, aber wir sind gerngesehene Gäste in der Küche und dürfen selber ausprobieren die Teigtaschen ebenso kunstvoll herzustellen, wie die Küchenfeen. Ich bewundere mit welch einer Geschwindigkeit Fleisch in kleine Würfel geschnitten und Gemüse geputzt und zerkleinert wird. Und das alles ohne die simpelsten Haushaltsgeräte, wie Dosenöffner, Schneebesen, Nudelholz, Rührlöffel, Siebe und Töpfe in ausreichender Menge. Von elektrischen Mixer, Fleischwolf oder Küchenmaschine und Spülmaschine gar nicht zu reden. Die Herstellung von Nudeln jeder Form einschliesslich Spagetti erfolgt natürlich „per Hand“. Im Hof köchelt auf einem kleine Gaskocher ein Topf Gemüsesuppe. Es ist wirklich interessant den Frauen über die Schulter schauen zu dürfen. Selbstverständlich bekommen wir Tee und es werden Kostproben der bereits fertigen Gerichte angeboten. Von der ruhigen, fröhlichen Atmosphäre in der Küche bin ich total begeistert. Nicht nur Helene und ich sitzen hier herum, nein, immer wieder kommen  Familienangehörige in die Küche und ordern Tee oder eine Zwischenmahlzeit und die beiden kleinen Kindern sind sowieso dabei. Ich verstehe nicht was gesprochen wird, sehe aber keinerlei Anzeichen von Stress, Hektik oder Gereiztheit. Nein, immer ist Zeit etwas zu erklären oder ein paar Worte zu wechseln.

Die Gemüsesuppe zusammen mit diversen anderen Gerichten als Abendbrot ist unser heutiges Abendessen und natürlich gibt es schwarzen Tee bis zum Abwinken. Neben uns und der übrigen Hausgemeinschaft, die bereits in der Küche zu Abend gegessen hat, werden noch 2 Bekannte von Alexander zu Tisch gebeten und verköstigt.

Im Haus unseres Gastgebers leben neben seiner Frau Ayscha noch die zwei unverheirateten Töchter, der unverheiratete Sohn Lanscha und der frisch verheiratete Sohn Rasul mit seiner Frau Rosa. Komplettiert wird der Haushalt durch die verheiratete älteste Tochter Suchra mit ihren 4 und 2 Jahre alten Töchtern. Helene erzählt mir, dass Suchra nur ausnahmsweise und mit der Erlaubnis der Schwiegereltern in Sonderfällen über Nacht und für längere Zeit bei ihren Eltern sein darf. Entgegen dunganischer Sitte ist auch der Schwiegersohn anwesend.

Sonntag steht ein großes Fest ins Haus. Der Tradition entsprechend darf die junge Frau für 10 Tage zurück in ihr Elternhaus. Dort, so sagt es die Tradition, kann sie entscheiden, ob sie zu ihrem Ehemann zurück kehren oder im Elternhaus bleiben will. Natürlich frage ich mich, ob Rosa tatsächlich eine Wahlmöglichkeit hat oder ob es pure Tradition ist. Da wir nicht zur Hochzeit kommen konnten, wurde dieses Fest einfach bis zu unserer Ankunft verschoben. Alles ist so fremd und unbekannt für mich. Besonders auch die Tatsache, dass es sich um den ersten offiziellen Besuch von Rosa’s Familie im Haus des Bräutigams handelt. Damit Sonntag alle Gäste der Sitte entsprechend bewirtet werden können, herrscht geschäftige Betriebsamkeit in der Küche. Neben den Töchtern des Hauses sind auch die Schwägerinnen von Ayscha mit eingespannt.

Ich werde derweil durch Helene darüber aufgeklärt, dass für die junge Frau mit der Eheschließung die Familienbande zu ihrer Familie zerschnitten werden. Mit der Hochzeit gehört die junge Frau mit allen Konsequenzen zur Familie des Ehemanns. Es ist selbstverständlich, dass die Jungvermählten im Haus der Schwiegereltern leben. Die Schwiegereltern übernehmen das Elternrecht – sogar bis zur Bestrafung – über die Schwiegertochter. All das ist für mich völlig fremd und unvorstellbar. Sie erklärt mir, dass traditionell einer der verheirateten Söhne zur Unterstützung im Haushalt der Eltern verbleibt und die Versorgung übernimmt. Helene deutet an, dass  Ayscha es mit ihrer Schwiegermutter nicht leicht gehabt hätte. Die Frage, ob es bei Rasul und Rosa eine Liebesheirat war oder ob es sich um Arrangement zwischen den Familien gehandelt hat wird mit: „Es war etwas Liebe im Spiel 😔“, beantwortet.

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